verstehende Soziologie

verstehende Soziologie
verstehende Soziologie,
 
eine durch die philosophische, erkenntniskritische und wissenschaftstheoretische Diskussion seit der Wende zum 20. Jahrhundert geprägte Zugangsweise zum soziologischen Denken und Forschen, in deren Konsequenz sich auch bestimmte Vorstellungen über Ansatzpunkte, Methodenbewusstsein und den Stellenwert soziologischer Objekte und Ergebnisse eingestellt haben. Gegen den am Ende des 19. Jahrhunderts dominierenden Positivismus bezog zunächst W. Dilthey mit dem Hinweis Stellung, dass sich die von Menschen unter bestimmten Sinnvorstellungen gemachte Welt der Geschichte, des Sozialen und der Kultur nicht angemessen anhand objektiver, gleichsam zähl- und beobachtbarer Merkmale erfassen und begreifen lasse. Diese könne vielmehr nur im Hinblick auf den in ihr enthaltenen beziehungsweise von den Menschen damit verbundenen »Sinn« untersucht werden, wobei das Erschließen dieses Sinns als »Verstehen« bestimmt werden könne. Hieran knüpften v. a. G. Simmel und M. Weber an, indem sie den in sozialen Handlungen und Gebilden (z. B. von ihrer Zielsetzung her) enthaltenen Sinn als eigentliches Objekt der Sozialforschung bestimmten. Während jedoch bei Dilthey das Verstehen an die Möglichkeit der unmittelbaren Einfühlung gebunden war, findet sich bei Weber das Bestreben, die Rahmenbedingungen für jeweilige Sinnorientierungen als historisches und soziales Regelwerk im Blick zu behalten und damit objektivierbare, d. h. durch Rückbezug auf die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sozialen Handelns auch kausalanalytische Erklärungen liefern zu können. In der Folge hat es immer wieder Kontroversen zwischen einer empirisch-positivistischen Sozialforschung und einer eher auf die Sinnerschließung sozialen Handelns ausgerichteten verstehenden Soziologie gegeben (z. B. im Positivismusstreit). Dabei wird die Tradition der verstehenden Soziologie heute v. a. von der phänomenologischen Soziologie, dem im Rückbezug auf G. H. Mead entwickelten symbolischen Interaktionismus und der aus dem Wechselbezug zur Sozialanthropologie und Ethnologie entstandenen Ethnomethodologie weitergeführt.
 
 
V. S. Grundzüge u. Entwicklungstendenzen, hg. v. W. L. Bühl (1972);
 K. Acham: Philosophie der Sozialwiss.en (1983);
 H. J. Helle: V. S. u. Theorie der symbol. Interaktion (21992);
 P. Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoret. Vernunft (a. d. Frz., Neuausg. 1993);
 A. Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (61993).

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Verstehende Soziologie — Die Verstehende Soziologie ist ein von Max Weber zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeltes wissenschaftstheoretisches Konzept für die Soziologie. Ziel der Soziologie ist es demnach, menschliches Handeln erklärend zu verstehen, also den… …   Deutsch Wikipedia

  • Soziologie — (lat. socius ‚Gefährte‘ und logie) ist eine Wissenschaft, die sich mit der empirischen und theoretischen Erforschung des sozialen Verhaltens befasst, das heißt die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen untersucht.… …   Deutsch Wikipedia

  • Verstehende Psychologie — (v.P.) ist ein Fachbegriff, mit dem Verstehen zur spezifischen Methode in der Psychologie und Psychopathologie erhoben wird. Als Gegensatz zum psychologisch relevanten Begriff des Verstehens wird für die Naturwissenschaften Erklären als… …   Deutsch Wikipedia

  • Soziologie — Gesellschaftslehre; Gesellschaftswissenschaft; Gesellschaftstheorie * * * So|zi|o|lo|gie [zots̮i̯olo gi:], die; : Wissenschaft, Lehre von den Formen des Zusammenlebens der Menschen, von den Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Entwicklungen… …   Universal-Lexikon

  • Phänomenologische Soziologie — Eine phänomenologische Soziologie ist eine Handlungstheorie. Sie bezeichnet eine am genauen Beobachten und intuitiven Zusammenfügen von sozialen Tatsachen orientierte Sozialwissenschaft, deren Untersuchungen weder von übergeordneten Theorien… …   Deutsch Wikipedia

  • Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie — The Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Cologne Journal for Sociology and Social Psychology) is the most important scientific journal for sociology in German language. History The journal s roots go back to the Kölner… …   Wikipedia

  • Handlungstheorie (Soziologie) — Die Handlungstheorie ist eine mikrosoziologische Theorie, mit deren Hilfe sich unterschiedliche Handlungen untersuchen und erklären lassen sollen. „Handlungen“ in diesem Sinne sind motiviert, im Gegensatz zum rein reaktiven „Verhalten“.… …   Deutsch Wikipedia

  • Auslegekunst — Die Hermeneutik (von griech. ἑρμηνεύειν hermēneuein mit den Bedeutungen: (Gedanken) „ausdrücken“, (etwas) „interpretieren“, „übersetzen“) ist eine Theorie über die Auslegung von Werken und über das Verstehen. Beim Verstehen verwendet der Mensch… …   Deutsch Wikipedia

  • Hermeneutisch — Die Hermeneutik (von griech. ἑρμηνεύειν hermēneuein mit den Bedeutungen: (Gedanken) „ausdrücken“, (etwas) „interpretieren“, „übersetzen“) ist eine Theorie über die Auslegung von Werken und über das Verstehen. Beim Verstehen verwendet der Mensch… …   Deutsch Wikipedia

  • Hermeneutik — Die Hermeneutik (von altgriechisch ἑρμηνεύειν hermēneuein ‚erklären, auslegen, übersetzen‘)[1] ist eine Theorie über die Auslegung von Werken und über das Verstehen. Beim Verstehen verwendet der Mensch Symbole. Er ist in eine Welt von Zeichen und …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”